Frank

 

  Am Sonntag morgen war Frank tot. Man fand ihn in einem Schuppen. Selbstmord. Die, die ihn kannten, waren bedrückt, den anderen bot sich eine Sensation. Nach drei Wochen war Frank vergessen. Nur die Mutter war tief getroffen, blätterte auch noch Jahre später im Fotoalbum und sah sich die Bilder an, ihr einziger Sohn, ihre einzige Hoffnung in ihrem bescheidenen Leben.

  Frank war ein Loser. Jedenfalls behaupteten das damals viele, um seinen Selbstmord zu begründen. Keine Freunde, keine Erfolge, keine Perspektive. Selbst schuld, wer sich das Leben nimmt. Was können wir dafür? Was hätten wir anders machen sollen?

  Keiner kennt die wahren Gründe, niemand wird Frank je verstehen. Stell‘ Dir vor, Du stehst in klirrender Kälte. Kannst Du die Kälte spüren? Nein? Niemand kann die Kälte spüren, die Frank damals empfand. Es ist zu spät.

 

   Ist es das? Stell dir vor... Frank hat überlebt. Heute wohnt er weit weg von Zuhause, in einer großen Stadt, er ist glücklich verheiratet und er hat zwei kleine Kinder, die ihm viel Lebensfreude schenken. Er hat eine kleine Buchhandlung. Ja, das Lesen hat ihm damals viel gegeben, als er es nicht mehr aushielt in der Schule und zu Hause. Frank war schwach. Beinahe hätte er den Wert des Lebens übersehen. Doch Schwäche ist keine Schande. Frank hat es geschafft, aus eigener Kraft.

  Heute hat Frank Freunde. Gute Freunde. Eine bezaubernde Frau. Menschen, denen er vertraut. Seinen Kindern hat er eingeschärft, niemals aufzugeben, wenn noch ein Funken Hoffnung besteht. Seine Kinder werden keine Loser, das hat sich Frank geschworen. Diese Hölle zu durchschreiten, seine Jugend, das wünscht Frank niemandem auf der Welt. Auch nicht seinen früheren Schulkameraden, die ihn spüren ließen, was es heißt, ein Loser zu sein; auch nicht seinem Vater, der ihn und seine Mutter damals verlassen hat. Frank wird immer für seine Kinder da sein.

 

  Heute bezeichnet Frank seinen Selbstmordversuch als törichte Dummheit. Gut, er wollte sterben. Oder zumindest nicht so weiterleben, wie bisher. Heute weiß er, Alternativen gibt es immer. Doch damals war er blind. Alles was er gebraucht hätte, wäre ein wenig Zuneigung gewesen. Er wollte sein Herz ausschütten. Doch niemand war für ihn da. Die Wut staute sich in ihm auf und verwandelte sich zu Aggression. Zum Schluss richtete die sich gegen ihn selbst.

  Was ihn damals in dem Schuppen abgehalten hat? Er sah aus dem Asphalt einen Grashalm sprießen; ein so zartes Pflänzchen durchbrach die dicke Teerdecke, und da wusste er: Auch ich bin nicht zu schwach zum Leben, lasst mich neu beginnen, von neuem anfangen, und ihr werdet sehen, dass ich’s schaffe.

  Frank ist gestorben aber er ist als neuer Mensch wiedergeboren.

 

 

© Wolfgang Unger, Feb. 1999