Die Begegnung
Seit den ersten Herbsttagen war sie ihm immer wieder morgens auf der Straße begegnet. Nur: „Begegnet“ war sie ihm nicht wirklich; ihren scheuen Blick vermochte er nicht aufzufangen. Und auch er vermied es, sie anzuschauen. Nur manchmal wagte er verstohlen, sie aus den Augenwinkeln zu betrachten. Sie war nicht besonders hübsch, sondern sie sah im Grunde ganz alltäglich aus. Ihr aschblondes Haar trug sie zu einem Zopf zusammengebunden, der in Schulterhöhe und etwas zu ungeordnet herabhing. Sie war von kleiner Statur, fast schmächtig, aber ihre Figur und vor allem ihr Gang hatte etwas Zartes, ja Beschützenswertes an sich. Ihre Nase war klein und ihr Mund schmal, das ganze Gesicht schien ihm zierlich. Aber in Ihren Augen stand ein leidvoller Ausdruck, etwas, das nach Angst aussah, und das sein starkes Interesse an diesem Mädchen begründete. Ihre dunkle Kleidung, der lange braune Mantel und der graue Schal machte ihr Gesicht allzu blaß.
Jedesmal, wenn sie sich begegneten, verlangsamte sich ihr Schritt, und auch er ging nur allmählich voran, und die wenigen Sekunden, in denen die beiden geneigten Kopfes aneinander vorbei schlenderten, verlängerten sich zu einer Ewigkeit, doch sein Gesicht verriet nicht die Aufregung, die sich in seinem Herzen für diesen Moment entzündeten. Er versuchte, sich von Mal zu Mal mehr Merkmale dieser Gestalt einzuprägen, und schon bald hatten sich ihre Züge tief in seine Seele eingegraben.
Er wußte eigentlich nichts über sie. Sie mochte wohl wie er selbst in dieser Stadt studieren, und ging wie er allmorgendlich zur Vorlesung, sie in die eine, er in die andere Fakultät. Er hätte sie gerne einmal angesprochen, wäre gern einmal mit ihr frühstücken gegangen, aber er brachte den Mut nicht auf, ein wildfremdes Mädchen auf offener Straße einfach so anzusprechen. Aber wildfremd war sie ja längst nicht mehr. Schon seit einem halben Jahr begegneten sie sich mehrmals in der Woche, und kein Gesicht war ihm so geläufig wie das ihrige. Was sie wohl denken mochte, wenn sie ihn so wie immer erblickte und die Augen sofort niederschlug? Was sie wohl empfand, wenn sie dann langsam aneinander vorbei glitten, ohne aneinander mit ihren Blicken hängen zu bleiben? Ob sie wohl spürte, das er mit seinen Gedanken oft bei ihr verweilte?
Jedesmal, wenn er sie sah, war es ein bißchen anders; mal trug sie schwarze Absatzschuhe, die laut auf dem Bürgersteig erschallten, und mal die weißen Turnschuhe; mal trug sie anmutig eine hübsche Handtasche, mal hatte sie auf ihren Rücken einen wohl selbstgestrickten beigen Rucksack geschnallt. Mal trug sie ein dezentes Makeup und mal sah sie ganz natürlich aus. Mal trafen Sie sich vor dem Fahrradgeschäft und mal bereits vor der Metzgerei. Aber ein Lächeln fand sich nie ein. Sie tauschten keinen Blick. Einmal hatte er sie aus sicherer Entfernung beobachten und studieren können; sie war ihm vertraut geworden wie sonst nichts in dieser Stadt. Sie gefiel ihm von Tag zu Tag mehr. Anfangs war da nur ein leises Erstaunen über ihre unscheinbare Gestalt, über ihre unerreichbaren Augen. Nun war da großes Interesse an dem Menschen, der sich wohl hinter dieser Fassade verbarg; er spürte von Tag zu Tag mehr Zuneigung zu diesem Wesen, von Tag zu Tag steigerte sich in ihm die Sehnsucht, das Verlangen, ihr auf ein bestimmte Weise näher zu kommen, sie kennenzulernen. Dabei interessierte ihn nicht so sehr, was sie für Hobbies habe, was sie studiere oder woher sie gebürtig komme, welche Freunde sie habe und was sie gerne zum Frühstück aß. Er wollte vielmehr wissen, ob es da tatsächlich eine Übereinstimmung zwischen ihnen gab, wie er vermutete: dass sie genauso dachte wie er, wenn sie sich begegneten! Diese Hoffnung nährte er in sich, und jedesmal suchte er neue Anhaltspunkte, um seinen Glauben zu bestätigen.
Einige Wochen später begegnete er ihr nicht mehr. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Er war traurig darüber, sie nicht mehr zu sehen und er musste immer wieder an sie denken. Deshalb stellte er Nachforschungen an und fragte hier und da, ob jemand dieses Mädchen kenne. Er beschrieb sie mit den schillerndsten Ausdrücken, doch niemand konnte ihm einen Hinweis geben, niemand kannte sein Mädchen. Der Sommer verging ohne dass er sie hätte vergessen können. Doch dann, eines Tages, etwa ein Jahr nach ihrer ersten Begegnung sah er sie wieder. Sie saß am Flussufer, auf einer Bank, und blickte traurig zu den würdevollen Schwänen. Sein Herz sprang über vor Freude. Langsam nährte er sich ihr, doch sie schien ihn nicht zu bemerken. Dann trat er vor sie, sie schaute auf, und er konnte in ihren Augen neben dem grenzenlosen Erstaunen eine große Freude erkennen: Er blickte in freundliche Augen, Augen, liebevolle Augen, Augen die ebenso wie die seinen etwas Altes, Gewöhntes und Ersehntes wiedererkannten. Wortlos nahm er neben ihr Platz und ergriff zärtlich ihre zitternde Hand. Nun waren sie sich endlich zum ersten Mal „begegnet“.
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Wolfgang Unger